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Tradition und Fortschritt verbinden


 


2. Kapitel: Wissenschaftstheoretische Grundlagen

Folgende Fragen werden im zweiten Kapitel erörtert:

  1. Welche Bedeutung haben wissenschaftstheoretische Grundlagen (Aufgaben, Kriterien und Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse) und wissenschaftliche Werkzeuge (Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze) für die Wissenschaft?
  2. Mit welcher Wissenschaftsmethodologie können am besten allgemeine und spezielle Kriterien entwickelt werden, mit deren Hilfe man zwischen Wissen (Wissenschaft) auf der einen und Pseudowissen (Pseudowissenschaft) auf der anderen Seite unterscheiden kann?
  3. Welche methodologische Vorgehensweise ist dabei vorzuziehen?
  4. Welche Bestandteile hat eine Wissenschaftskonzeption?
 
   

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Das Ziel des zweiten Kapitels ist, die zentrale Bedeutung wissenschaftstheoretischer Grundlagen und wissenschaftlicher Werkzeuge herauszuarbeiten. Es soll gezeigt werden, dass Wissen in der Regel von Wissenschaftlern mit wissenschaftlichen Werkzeugen generiert wird und wissenschaftstheoretischen Grundlagen genügt, d.h. die Methodologie garantiert "den sicheren Gang einer Wissenschaft" (Kant 1956 [1781 und 1787]: 14 [B VII], vgl. 1. Schaubild).

Methodologie wird für die Gesamtheit aller wissenschaftlichen Vorgehensweisen verwendet bestehend aus wissenschaftstheoretischen Grundlagen (Aufgaben, Kriterien und Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse) und wissenschaftlichen Werkzeugen (Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze). Methode wird hier im engeren Sinne gebraucht, also nur für konkrete Verfahren für die Ermittlung von Sachverhalten (vgl. 2. Schaubild).


2.1 Partizipative Wissenschaftsmethodologie Seitenanfang

2.1.1 Ausgangspunkt: Partizipative Wissenschaftsphilosophie Seitenanfang

"Die *Philosophie ist wie ein Lahmer, der ohne seine Stützen, die *Wissenschaften, nichts bewegen kann. Und die *Wissenschaften sind wie Arbeiter im Dunkeln, wenn sie nicht das Licht der *Philosophie benutzen, um die Wege zu sehen, die sie mit dem Leben verbinden" (Lorenzen 1974: 130). Auch wenn Lorenzen übertreibt, so wird die Bedeutung von wissenschaftstheoretischen, in der Regel formalen Analysen bei weitem unterschätzt, während inhaltliche Beiträge von Philosophen in der Regel überschätzt werden.

Lorenzen überschätzt erstens die Möglichkeiten der Philosophie, zweitens betreibt er in der Regel eine Wissenschaftsphilosophie im "Philosophie von ..."-Modus. "In diesem Modus bleiben Philosophen mit ihrer Arbeit weitgehend außerhalb der Einzelwissenschaften. Dem stellt Hansson die ´Philosophie mit ...` gegenüber, womit er einen Modus des Philosophierens in enger Zusammenarbeit mit Fachwissenschaftlern aus einer Einzelwissenschaft meint. In diesem Modus betreiben Wissenschaftsphilosophen ihr Fach nicht als Außenstehende, als Beobachter der Einzelwissenschaften, sondern sind selbst aktive Teilnehmer im Theorieentwicklungsprozess der Einzelwissenschaften. In dieser Perspektive ist das Ziel der Wissenschaftsphilosophie nicht nur zu verstehen, was Wissenschaft ist und nach Möglichkeit den Wissenschaftsbetrieb methodologisch zu verbessern. Vielmehr soll auch ein inhaltlicher Beitrag zu den einzelwissenschaftlichen Fragestellungen geliefert werden" (Reydon/Hoyningen-Huene 2011: 136, vgl. Hansson 2008: 472-483). Diese Überlegungen werden unter dem Untertitel "Partizipative Wissenschaftsphilosophie" von Thomas A.C. Reydon und Paul Hoyningen-Huene präsentiert. Weiterhin wird letzte Position so zusammengefasst: "Andere Autoren haben ein ambitionierteres Ziel: Ihrer Meinung nach sollte die Wissenschaftsphilosophie ebenfalls anstreben, wissenschaftliches Wissen zu produzieren. Die Wissenschaftsphilosophie wird hier zu einem interdisziplinären Unternehmen und der Wissenschaftsphilosoph zu einem Forscher, der selbst am Wissensproduktionsprozess der Einzelwissenschaften teilnimmt und diesen Prozess in den Bereichen weiter fortsetzt, wo die Einzelwissenschaften selbst nicht auftreten" (Reydon/Hoyningen-Huene 2011: 136, siehe auch 140-141).


2.1.2 Eigene Position: Partizipative Wissenschaftsmethodologie Seitenanfang

Meine Kritik am Mainstream der Wissenschaften insbesondere der Politikwissenschaft ist dadurch entstanden, dass ein praktischer Diskurs, der derzeitigen logisch-analytischen Argumentationsstandards genügt, mit der vorhandenen Methodologie nicht möglich ist, weil dazu eine pluralistische und keine reduktionistische Methodologie notwendig ist (vgl. 4. Kapitel und 3. Schaubild). Insbesondere am Beispiel der Europäischen Union und der Sozialen Sicherheit wurden wissenschaftliche Werkzeuge (Begriffe und methodische Ansätze) getreu meinem Motto "Tradition und Fortschritt verbinden" erläutert, expliziert, präzisiert, rekonstruiert, neu entwickelt oder weiterentwickelt. Damit wird Wissenschaftstheorie als partizipative Wissenschaftsmethodologie am Beispiel konkreter Fragestellungen innerhalb der Politikwissenschaft betrieben (vgl. Lauer 1993, Lauer: soziale-sicherheit.de).


2.2 Methodologischer Konstruktivismus: Zentrale Bedeutung wissenschaftstheoretischer Grundlagen sowie wissenschaftlicher Werkzeuge Seitenanfang

2.2.1 Ausgangspunkte: Epistemischer Konstruktivismus und Erlanger Konstruktivismus Seitenanfang

Die modernen philosophischen Grundlagen eines radikalen epistemischen Konstruktivismus hat Henry Nelson Goodman (1978) geliefert, der sich auf Philosophen wie George Berkeley, Immanuel Kant, Ernst Cassirer, Paul Rudolf Carnap, Ernst Hans Gombrich beruft. "An die Stelle der Vorgegebenheit der Welt tritt die Herstellung der Pluralität und Heterogenität von Weltbildern im strikten Sinne des Machens und Setzens" (Gloy 2006: 242, siehe auch 241-254, vgl. Goodman 1978 und Lorenz 1973).

"Logik, Ethik und `Wissenschaftstheorie`, d.h. die grundlegenden Schritte, durch die die Wissenschaften in Gang kommen, das sind die Aufgaben, die ich ´philosophisch´ zu nennen vorschlage: also Philosophie als Protowissenschaft, nicht Metawissenschaft. Die Frage nach dem Zweck der Philosophie, genauer, nach dem Zweck des Philosophierens ist damit zugleich beantwortet: es ist die Konstruktion einer Wissenschaftssprache, die als gemeinsamer Teil der Sprache aller Disziplinen der technischen und der praktischen Wissenschaft dienen kann" (Lorenzen 1974: 126). Die Wissenschaftssprache nennt er Orthosprache, "nach der erforderlichen protreptischen Vorbereitung konstruieren wir eine Orthosprache mit der natürlichen Sprache als Parasprache" (Lorenzen 1974: 129, zum Erlanger Konstruktivismus siehe auch Kamlah/Lorenzen 1967, Lorenzen/Schwemmer 1975, Lorenzen 1978, Lorenzen 1985).

Eine genauere Bezeichnung von Pluralismus ist nach Lorenzen Polydoxie, Vielheit der Meinungen. "Bevor wir uns mit dem Zustand der Meinungsvielheit, der ja oft nichts als ein Meinungschaos ist, abfinden, sollten wir daher m.E. genauer untersuchen, ob außer Zwangsmonodoxie (Einheit ohne Freiheit) und freier Polydoxie (Freiheit ohne Einheit) nicht eine freie Monodoxie (Freiheit und Einheit) als dritte Möglichkeit erreichbar sein könnte: eine freiwillige Übereinstimmung derjenigen, die Denken und Verstehen gelernt haben, in allen sogenannten prinzipiellen Fragen" (Lorenzen 1974: 12).


2.2.2 Eigene Position: Methodologischer Konstruktivismus Seitenanfang

Die wissenschaftliche Bearbeitung von Problemen setzt eine Reihe impliziter und expliziter Weichenstellungen bezüglich der Auswahl wissenschaftstheoretischer Grundlagen und wissenschaftlicher Werkzeuge voraus. Damit eine konstruktive Auseinandersetzung möglich bzw. Aneinander-vorbei-Argumentieren vermieden wird, sollten diese offen gelegt werden. So sollten z.B. die methodologischen Grundlagen einer Theorie ausgeleuchtet werden, damit alle Begriffe klar umrissen sind - und in der Diskussion vermieden wird, dass die Beteiligten aneinander vorbeireden. Besonders bei neuen wissenschaftlichen Werkzeugen ist es nötig, deren Leistungsfähigkeit und Grenzen in den Blick zu nehmen.

Die Methodologie wissenschaftlicher Arbeit rückt in den Vordergrund: Ist sie hinreichend erläutert, präzisiert und rekonstruiert, kann die inhaltliche Arbeit beginnen, sei es nun eine Analyse zu erstellen oder einen Beitrag zu evaluieren. Denn der Unterschied zwischen wissenschaftsbasiertem Wissen und Pseudowissen (Meinungen, Wünschen oder Ideologien) besteht darin, dass Wissen eine fundierte Methodologie zugrunde liegt. Ohne dies kann sich Wissen nicht aus dem weiten Meer der Meinungsäußerungen hervorheben, wie sie täglich durch die Massenmedien vermittelt werden. Daher müssen sich sowohl Konsumenten als auch Produzenten von rationalem Wissen mit den Grenzen und Möglichkeiten wissenschaftlicher Werkzeuge auseinandersetzen.

Ein methodologischer Konstruktivismus weist auf die zentrale Bedeutung hin, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen (Aufgaben, Kriterien und Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse) sowie wissenschaftlichen Werkzeugen (Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze) im Wissenschaftsprozess zukommt. Wissenschaftler sind Subjekte einer selbst erzeugten Weltsicht.

Eine systematische Rekonstruktion und Selbstreflexion wissenschaftlicher Methodologie wird angestrebt, nicht aber wie im Erlanger Konstruktivismus ein kohärentes Programm mit dem Ziel einer exakten Fundamentalsprache, einer "Orthosprache" (Lorenzen 1974: 129, vgl. Dingler 1987) oder absolute Sicherheit und Eindeutigkeit, wie es der Certismus (Spinner 1974: 25) fordert. Eine Monodoxie halte ich aufgrund der Grenzen wissenschaftlicher Diskurse nicht für möglich, daher geht ein methodologischer Konstruktivismus einher mit einer pluralistischen Methodologie und einer dynamisch-offenen Wissenschaftskonzeption und unterscheidet sich auch in Grundfragen (vgl. 4.3.6 Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse) grundlegend vom Erlanger Konstruktivismus (vgl. 3. Schaubild).


2.2.3 Empirie und Rationalität Seitenanfang

"Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen" (Kant 1956 [1781 und 1787]: 95 [A 51, B 75]).

Ein anderes Bild verwendet Arthur Schopenhauer: „Empirische Wissenschaften, rein ihrer selbst wegen und ohne philosophische Tendenz betrieben, gleichen einem Antlitz ohne Augen“ (Schopenhauer 1986a: 167, vgl. 155-168) oder wie es Odo Marquard formuliert hat: "Erfahrung ohne Philosophie ist blind; Philosophie ohne Erfahrung ist leer" (Marquard 1981: 8).

Für die Erkenntnistheorie bedeutet das: Rationalität und Empirie sind unbestritten die übergeordneten Prinzipien, denen ein wissenschaftlicher Diskurs genügen müssen. Im Kant-Zitat wird der Kern des kantschen Programms dargestellt: Empirismus und Rationalismus miteinander zu versöhnen und nicht gegeneinander auszuspielen.

Albert Einstein schrieb: "Die gegenseitige Beziehung von Erkenntnistheorie und Wissenschaft ist von merkwürdiger Art. Sie sind aufeinander angewiesen. Erkenntnistheorie ohne Kontakt mit der Wissenschaft wird zum leeren Schema. Wissenschaft ohne Erkenntnistheorie ist - soweit überhaupt denkbar - primitiv und verworren" (zitiert nach Tetens 2013: 27).

Eine aktualisierte Version lautet meiner Meinung nach: Rationales Wissen (Inhalte bei Kant) auf der einen und wissenschaftliche Werkzeuge und wissenschaftstheoretische Grundlagen (Begriffe bei Kant) auf der anderen Seite bedingen einander: Werkzeuge ohne Wissen sind leer, Wissen ohne Werkzeug ist blind. Dies ist eine der zentralen Maximen meiner Arbeit, die wesentlich leichter formuliert als umgesetzt werden kann.


2.3 Dynamisch-offene Wissenschaftskonzeption Seitenanfang

2.3.1 Ausgangspunkt: Wissenschaftstheoretische Trias: Normativ-ontologische, kritisch-dialektische und empirisch-analytische Wissenschaftskonzeptionen Seitenanfang

Zu den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Politikwissenschaft wird in der Literatur auf folgende Trias verwiesen: "Für die Politikwissenschaft werden drei Gruppen von Wissenschaftskonzepten unterschieden. Ihre Namen werden in der politikwissenschaftlichen Literatur überwiegend mit `normativ-ontologisch´, ´kritisch-dialektisch´ und ´empirisch-analytisch´ angegeben. Alle drei Gruppen bestehen jeweils aus verschiedenen Wissenschaftskonzepten, die jedoch bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen und deshalb zusammengefaßt werden" (Druwe 1995: 24).


2.3.2 Eigene Position: Statisch-geschlossene versus dynamisch-offene Wissenschaftskonzeptionen

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In allen drei Wissenschaftskonzeptionen findet man meiner Meinung nach sowohl normative, kritische als auch empirische Elemente. Daher ist eine andere Aufteilung der wissenschaftstheoretischen Grundlagen wichtiger und zwar die in statisch-geschlossene und dynamisch-offene Wissenschaftskonzepte. Sowohl Elemente einer statischen als auch dynamischen Wissenschaftskonzeption findet man seit Jahrhunderten, teilweise sogar bei ein und demselben Autor (Philosoph, Wissenschaftstheoretiker und sicherlich auch bei einzelnen Wissenschaftlern). Daher ist eine historische Zäsur nicht angebracht. Weiterhin hat eine systematische Gliederung auch heuristische Vorteile, wenn es darum geht sich für einzelne Elemente zu entscheiden.

Statisch-geschlossene Elemente werden heute kaum noch vertreten, eine Gegenüberstellung mit dynamisch-offenen Elementen ist sowohl aus heuristischen als auch aus systematischen Überlegungen sinnvoll, weil das Auftauchen von statisch-geschlossenen Elementen in Untersuchungen auf methodologische Fehler in wissenschaftlichen Analysen oder gar auf Ideologien verweist.

Sowohl die wissenschaftstheoretischen Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens als auch die wissenschaftlichen Werkzeuge sind Ergebnisse wissenschaftlicher Diskurse. Dabei gibt es über die einzelnen Themen nicht nur Übereinstimmung, sondern oft auch konträre Auffassungen, so dass eine sinnvolle Diskussion nur dann erfolgt, wenn man dies berücksichtigt. Es handelt sich bei der hier vertretenen Wissenschaftskonzeption um eine dynamisch-offene Wissenschaftskonzeption, die auf allen methodologischen Ebenen nicht nur offen gegenüber Neuerungen ist, sondern sich auch ständig dynamisch weiterentwickelt. Einige Ausnahmen (vgl. 3.2.1 Aufgaben und Grenzen wissenschaftlicher Diskurse) bestätigen diese Regeln (vgl. 1. Schaubild).


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Quelle:
praktische-wissenschaften.de/2-kapitel-pw.htm

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