Tradition und Fortschritt verbinden
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4. Kapitel: Methodologischer Reduktionismus
versus methodologischer Pluralismus
Im vierten Kapitel wird folgenden Fragen
nachgegangen:
- Welche Merkmale hat ein methodologischer Reduktionismus?
- Welche
Argumente können für einen methodologischen Pluralismus
vorgebracht werden?
Ziel: Der methodologische Reduktionismus
(wissenschaftstheoretische Neoplatonismus) wird idealtypisch
dargestellt. Darüber hinaus werden die Einwände gegen einen
methodologischen Reduktionismus sowie die
Argumente für einen methodologischen Pluralismus (wissenschaftstheoretischen Neoaristotelismus)
aufgeführt (vgl. 3. Schaubild).
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4.1 Zwei methodologische Traditionen
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4.1.1 Ausgangspunkte: Aristotelische und platonische (galileische) Tradition |
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Im aristotelischen Organon wird eine
pluralistische Methodologie ausgebreitet und
werden deren damalige Grenzen und Möglichkeiten
detailliert geschildert. Diese pluralistische Methodologie wird in der Neuzeit in Frage
gestellt, etwa durch das Neue Organon
von Francis Bacon
(1990
[1620]), insbesondere aber durch den cartesischen Rationalismus (Descartes 2001 [1637],
Descartes 1994
[1641],
Descartes 2005 [1644]).
More geometrico, nach Art der Geometrie, wurde das
Ideal neuzeitlicher Denker. Damit wird ein methodologischer
Reduktionismus begründet.
Die aristotelische Tradition wurde in der Neuzeit insbesondere
innerhalb der Naturwissenschaften fast gänzlich von der galileischen
Tradition abgelöst (Lewin
1930/1931, von Wright 1974
[1971]).
Diese rationalistische Tradition hat auch im 20. Jahrhundert sehr
einflussreiche Vertreter gefunden:
Logischer Empirismus
(Wittgenstein
1984b [1922],
Carnap 1998
[1928],
Reichenbach 1983 [1938],
Stegmüller 1979. Band 1),
kritischer Rationalismus
(Popper
2005 [1934]) und
Erlanger Konstruktivismus
(Kamlah/Lorenzen
1967, Lorenzen/Schwemmer,1975,
Lorenzen 1974). Poppers methodologischer Reduktionismus kommt in folgenden Zitaten
zum Fallibilismus eindeutig zum Vorschein:
"Wodurch unterscheiden sich die empirischen
von den nichtempirischen Wissenschaften und von den
außerwissenschaftlichen Gebieten? Gibt es ein Kriterium, das die
empirischen Wissenschaften gegen nichtempirische Gebiete abgrenzt? Ein
Kriterium, durch das gewisse Sätze oder Satzsysteme als empirisch
ausgezeichnet werden, andere als nichtempirische? Die Frage nach einem
solchen Abgrenzungskriterium nenne ich das
´Abgrenzungsproblem´. Das Abgrenzungsproblem ist das
Fundamentalproblem der Erkenntnistheorie: alle
erkenntnistheoretischen Fragen können auf dieses Problem zurückgeführt
werden" (Popper
2010 [1979]: 422).
Das zweite Grundproblem: "Das Induktionsproblem ist die Frage nach der
Geltung (oder nach der Begründung) der allgemeinen
Sätze der empirischen Wissenschaften. In anderer Formulierung: Können
empirische Sätze (Wirklichkeitsaussagen, die sich auf Erfahrung gründen)
allgemeingültig sein? Das Induktionsproblem [...] ist eine bestimmte Form des Problems der
Naturgesetzlichkeit (und des Kausalproblems)"
(Popper 2010 [1979]: 424).
Das Ideal einer Einheitswissenschaft erfordert einen generellen
oder allgemeinen Reduktionismus und zwar die Reduktion aller Wissenschaften auf eine
grundlegende Wissenschaft (Neurath
2006b [1935], Oppenheim/Putnam 1958,
Nagel 1961,
Nagel 1967. Kritik am Reduktionismus:
Fodor 1974).
Ein anti-cartesianischer Reduktionismus wurde in den 70er Jahren
des 20. Jahrhunderts am Starnberger Institut der Max-Planck-Gesellschaft
formuliert. "Years ago, a group of researchers (Böhme/van den Daele/Krohn 1974)
at the Starnberg Institute of the Max-Planck-Gesellschaft offered the
so-called Finalisierungsthese, which fits into the same framework even if
the arguments are different. They meant that all sciences, including
technology, will in the future have an absolutely new and different
structure - namely, an anti-Cartesian one" (Poser
2001: 199).
Hier geht es nicht um einen allgemeinen Reduktionismus, sondern um einen methodologischen Reduktionismus,
der auf sechs methodologischen Ebenen nachgewiesen werden soll. Wissenschaftler, die sich
der galileischen Tradition
verpflichtet fühlen, vertreten und praktizieren einen methodologischen Reduktionismus, dessen wichtigste Grundzüge im
3. Schaubild
aufgeführt werden sowie unten ausführlich erörtert werden (vgl.
4.2 Methodologischer Reduktionismus
(wissenschaftstheoretischer Neoplatonismus).
4.1.2 Eigene Benennungen: Methodologischer Reduktionismus
(wissenschaftstheoretischer Neoplatonismus) versus methodologischer Pluralismus (wissenschaftstheoretischer Neoaristotelismus) |
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Wissenschaftliche Heilserwartung ist eine contradictio in adiecto. Die
Realität ist wie immer etwas bunter: Die Sehnsucht nach wissenschaftlichen
Revolutionen ist seit Francis Bacon auch bei eingefleischten Rationalisten
auf der Tagesordnung.
Meiner Meinung nach könnte zumindest in der Zwischenzeit auch ein
wissenschaftstheoretischer Neoaristotelismus oder methodologischer
Pluralismus gute Dienste erbringen, denn das Bonmot von Johann Nestroy -
"Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut,
als er wirklich ist" - ist nicht ohne Grund das Motto
von Wittgensteins Spätphilosophie (Wittgenstein
1984c [1951]).
Wenn man von Neoaristotelismus spricht, dann denkt man an die
Rehabilitierung der
praktischen Philosophie Aristoteles` innerhalb der Politischen Philosophie,
die insbesondere durch Leo Strauss
(1977
[1953]), Otfried Höffe
(1996
[1971],
Höffe
2006), Alasdair MacIntyre
(1985
[1981]), Martha Craven Nussbaum
(1986) und Amartya Kumar Sen
(2000) vorgenommen wurde. Diese und
viele andere Autoren kritisieren die neuzeitliche Politische Theorie
und versuchen durch Rückgriff auf Aristoteles genuin praktisch-politische
Fragestellungen wieder in den Fokus der Politischen Philosophie zu
rücken (vgl.
Riedel 1972,
von Beyme 2000 [1972]: 39-69,
Brodocz/Schaal 2006).
Bei Aristoteles (Aristoteles 1920, Aristoteles 1982, Aristoteles 1999) werden im Gegensatz zum methodologischen Reduktionismus eine Vielzahl von Formen von Rationalität thematisiert: "Syllogistik, Aristotelische Dialektik, Rhetorik und Poetik scheinen auf den ersten Blick bloß disparate Themen zu sein.
Trotz tiefgreifender Unterschiede haben sie aber eine Gemeinsamkeit, es sind Weisen, in denen sich menschliches Wissen darstellt: Formen von Rationalität" (Höffe 2006 [1996]: 50).
Ein wissenschaftstheoretischer Neoaristotelismus bringt einerseits Einwände gegen den
methodologischen Reduktionismus und andererseits Argumente für einen
methodologischen Pluralismus.
Insbesondere auf die Werke folgender Autoren habe ich zurückgegriffen, die
in historischer Reihenfolge aufgelistet werden: Ludwig Josef Johann Wittgenstein
(1984c [1951]), Georg Henrik von Wright
(1977a
[1951],
von Wright 1963,
von Wright 1977c [1963], von Wright 1974
[1971],
von Wright 1977g
[1974]),
Stephen Edelston Toulmin
(2003 [1958]), Thomas Jefferson Kuhn
(1976 [1962],
Kuhn 1977),
Wolfgang Wieland
(1986,
Wieland 1989,
Wieland 1999a), Otfried Höffe
(1996
[1971], Höffe 2009 [2007]),
Hans Poser
(2012, Poser
2001, Poser 2008b), Klaus Kornwachs
(2008,
2012, 2013) und Gregor Betz
(2010).
"Was ich hier die galileische Tradition
nenne, läßt sich bis zu Platon, also über Aristoteles hinaus,
verfolgen" (von Wright 1974
[1971]: 17, vgl. Anmerkung 5, S. 151). Daher erscheint mir die Bezeichnung wissenschaftstheoretischer
Neoplatonismus (im Neuplatonismus stehen vor allem die Inhalte
von Platons Werk im Mittelpunkt) treffender, sofern man die Methodologie mit einem
Philosophen in Verbindung bringen will.
Während etwa Georg Henrik von
Wright (1974 [1971]) seine Überlegungen ausdrücklich im Anschluss an
die aristotelische Tradition vorstellt, ist der Bezug zu
Aristoteles bei anderen Autoren nicht auf den ersten Blick erkennbar. So
schreibt Stephen Edelston Toulmin im Vorwort der 45 Jahre später erschienenen Neuauflage, dass ihm beim
Verfassen seines Buches ein Bezug zu Aristoteles nicht bewusst war, gegen
die platonische (galileische) Tradition hat er sich aber sehr wohl
abgegrenzt:
"Even the fact that the late Gilbert Ryle gave the
book to Otto Bird to review, and Dr. Bird wrote of it as being a ´revival
of the Topics made no impression on me. [...] So, after all,
Otto Bird had made an important point. If I were rewriting this book
today, I would point to Aristotle´s contrast between ´general´ and ´special´ topics as a way of throwing clearer light on the varied kinds of ´backing´
relied on in different fields of practice and argument" (Toulmin 2003:
VIII).
"When I wrote it, my aim was strictly philosophical:
to criticize the assumption, made by most Anglo-American academic
philosophers, that any significant argument can be put in formal terms:
not just as a syllogism, since for Aristotle himself any inference can be
called a ´syllogism´ or ´linking of statement´, but a rigidly
demonstrative deduction of the kind to be found in Euclidean
geometry. Thus was created the Platonic tradition that, some two
millennia later, was revived by René Descartes. [...]
In no way I set out to expound a theory of rhetoric or
argumentation: my concern was with twentieth-century epistemology,
not informal logic. Still less had I in mind an analytical model like that
which, among scholars of Communication, came to be called ´the Toulmin
Modell`” (Toulmin 2003:
VII).
Wilhelm
Hennis
(1963) will eine "Rekonstruktion des Wissensbegriffs der
Politikwissenschaft" (Hennis
1963: 23) mit Hilfe der aristotelischen Methodologie erreichen und
versucht eine
Rehabilitierung der Politik als praktische Philosophie,
indem er auf die Bedeutung von Praxis, Teleologie und Topik
hinweist. Nicht nur seine Kritik an der empirisch orientierten
Politikwissenschaft ist übertrieben, sondern auch die eigenwillige
Auslegung der aristotelischen Methodologie wurde von Helmut
Kuhn
(1965) zu Recht kritisiert.
Der Fokus des methodologischen Reduktionismus
und des methodologischen Pluralismus liegt auf wissenschaftlichen
Werkzeugen und deren wissenschaftstheoretischen Grundlagen
(vgl. 2. Schaubild und
3. Schaubild).
Innerhalb des wissenschaftstheoretischen Neoplatonismus
geht es
darum, einen archimedischen Punkt genauer gesagt absolute Fundamente
für Wissen oder Wissenschaft zu finden, sei es nun in der Ideenlehre bei
Platon, der strengen methodischen Vorgehensweise (more geometrico) bei Descartes (Descartes 2001 [1637],
Descartes 1994
[1641],
Descartes 2005 [1644], aber auch im logischen Empirismus (Carnap 1998 [1928]), kritischen
Rationalismus (Popper 2005 [1934]) sowie im Erlanger
Konstruktivismus (Kamlah/Lorenzen 1967,
Lorenzen/Schwemmer 1975, Lorenzen 1978,
Lorenzen 1985)
oder im Anschluss an Platons Dialog Theaitetos (Platon
1983f)
Bedingungen des Wissens zu formulieren
(Lehrer 1990, Enskat 2005).
"Es gibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere Protokollsätze
zum Ausgangspunkt der Wissenschaften zu machen. Es gibt keine Tabula
rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See
umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten
Bestandteilen neu errichten zu können. Nur die Metaphysik kann restlos
verschwinden. Die unpräzisen ´Ballungen´ sind immer irgendwie Bestandteil
des Schiffes. Wird die Unpräzision an einer Stelle verringert, kann sie wohl
gar an anderer Stelle verstärkt wieder auftreten" (Neurath
2006 [1932]: 401).
In Aristoteles´ Organon und innerhalb eines wissenschaftstheoretischen
Neoaristotelismus war und ist das Ziel nach wie vor, eine
Methodologie zu explizieren, zu präzisieren, zu rekonstruieren, neu zu
entwickeln oder weiterzuentwickeln.
"Die Aufgabe der Begriffsexplikation
besteht darin, einen gegebenen, mehr oder weniger unexakten Begriff durch
einen exakten zu ersetzen. Der gegebene Begriff (sowie der dafür verwendete
Ausdruck) soll Explikandum heißen, den exakten Begriff (sowie den
dafür vorgeschlagenen Ausdruck) hingegen, der den ersten ersetzen soll,
nennen wir Explikat. Das Explikandum kann der Sprache des Alltags
oder einem frühen Stadium der Wissenschaftssprache entnommen sein. Das
Explikat muß durch explizite Regeln für seine Anwendung gegeben werden. Dies
kann z.B. durch eine Definition geschehen, welche diesen Begriff in ein
bereits vorhandenes System von logischmathematischen oder empirischen
Begriffen einordnet“ (Carnap
1959: 12).
Das Muster, das Carnap für die Begriffsexplikation expliziert hat, gilt
meiner Meinung nach analog auf allen methodologischen Ebenen und für alle wissenschaftlichen
Werkzeuge. Die Hauptaufgabe jeder Methodologie besteht darin,
zu explizieren, zu präzisieren, zu rekonstruieren oder
weiterzuentwickeln. Neuentwicklungen sind eher die
Ausnahme als die Regel, denn Originalität wird häufig zu Unrecht
reklamiert, obwohl es sich dabei nicht selten um einen Mangel an Literaturkenntnis
handelt. "´Originalität ist Mangel an Literaturkenntnis´, hat ein
intellektueller Spaßvogel einmal behauptet" (von
Beyme 2005: 17). Nicht zuletzt deshalb lautet mein Motto:
Tradition und Fortschritt verbinden (Lauer:
lauer.biz).
Auf sechs methodologischen Ebenen wird einmal der methodologische Reduktionismus
(wissenschaftstheoretischer Neoplatonismus) idealtypisch
dargestellt, danach die Einwände dagegen sowie die Argumente für einen methodologischen Pluralismus aufgeführt
und damit ein wissenschaftstheoretischer Neoaristotelismus präsentiert (3. Schaubild).
Der methodologische Pluralismus
geht einher mit einer dynamisch-offenen Wissenschaftskonzeption, d.h., dass auf allen methodologischen Ebenen ständig
Neuerungen und Weiterentwicklungen stattfinden (vgl. 1. Schaubild).
4.2 Methodologischer Reduktionismus (wissenschaftstheoretischer Neoplatonismus)
|
|
Methoden-
und Theorienpluralismus ist innerhalb des methodologischen
Reduktionismus nicht nur möglich, sondern wird in der Regel auch von allen
ausdrücklich gefordert. Im Folgenden geht es also um etwas anderes,
es geht um einen methodologischen Reduktionismus.
Auf der Begriffsebene nehmen Wissenschaftler, wenn
sie einen methodologischen Reduktionismus praktizieren, eine Reduktion normativer
auf empirische Begriffe vor oder eine Verbannung normativer Begriffe aus dem
wissenschaftlichen Diskurs.
Auf der Satzebene findet eine
Reduktion
von Normen auf Aussagen oder Verbannung von Normen aus dem wissenschaftlichen Diskurs.
Nur
wahrheitsdefinite Aussagen werden akzeptiert.
Praktisch-normative Diskurse
und damit auch praktische Theorien werden als
unwissenschaftlich abgelehnt, soweit diese nicht mit einer
empirischen Methodologie bearbeitet werden können.
Auf der Satzebene findet eine
Reduktion aller formalen
Analysen normativer Diskurse auf die deontische Logik statt,
eine Variante der Modallogik (zuerst durchgeführt in
von Wright 1977a
[1951]).
4.2.5
Argumentationsebene |
|
Im Folgenden werden mehrere reduktionistische Argumentationsweisen erläutert:
- Äquivalenz zwischen
Kausalität und Handlung,
- theoretische und angewandte Wissenschaften,
- Sein-Sollen-Verhältnis,
- Erklären-Verstehen-Debatte,
- Bevorzugung deduktiver Argumentationsweisen,
- Ein Abgrenzungskriterium.
A. Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung
"Scientia et potentia humana in idem
coincidunt,
quia ignoratio causae destituit effectum. Natura enim non nisi parendo
vincitur; et quod in contemplatione instar causae est, id in
operatione instar
regulae est“ (Bacon 1990
[1620]:
80, 3. Aphorismus, Teilband 1).
"Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache
die Wirkung verfehlen lässt. Die Natur nämlich lässt sich nur durch Gehorsam
bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfasst ist, dient bei
der Ausführung als Regel“
(Bacon 1990
[1620]:
81, 3. Aphorismus, Teilband 1).
Besser als "ergänzen sich" ist die von Wolfgang Krohn vorgeschlagene
deutsche Übersetzung "sie
treffen in demselben zusammen“. "The twin goals, human science and
human power, come in the end together“ (Übersetzung von
B. Farrington, zitiert nach
Krohn 1990:
XVII).
"Der zentrale Aspekt ist die
Neuordnung der Beziehung zwischen den
Begriffen der Naturkausalität
und der Handlungsregel. Bacon stellt
die Äquivalenz auf, dass die Erkenntnis eines
Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs in der Natur als Regel der Hervorbringung einer
Wirkung dienen kann (a3) und umgekehrt, das die Hervorbringung eines Effektes
durch eine Regel die Angabe einer Kausalität ermöglicht (b4)“ (Krohn
1990: XVI).
Logisch gesehen handelt es sich
bei der Äquivalenz um eine bikonditionale Beziehung
oder genauer gesagt
eine Genau-dann-wenn-Beziehung (gdw. bedeutet A
genau dann, wenn B), die einmal eine
notwendige Bedingung (wenn A, dann B) und
gleichzeitig eine hinreichende Bedingung
(wenn B, dann A) formuliert.
Für diesen Aphorismus hat meines Wissens weder Francis Bacon noch
andere Befürworter dieser Äquivalenz einen Beweis geliefert, es ist im
Gegenteil eine Voraussetzung,
die bis heute insbesondere auch im Mainstream der empirisch-analytisch
orientierten Wissenschaften als gegeben angenommen wird, aber nie bewiesen
wurde.
Bei dieser Äquivalenz handelt es sich auch um eine "Transmissionsregel
vom Wissen über die Natur zur Handlungsregel in der Natur" (Kornwachs
2013: 42). Mario Bunge nennt dies einen
pragmatischen Syllogismus (Bunge
1967b: 132-139).
B. Theoretische und angewandte Wissenschaften
In der Neuzeit verschwindet die von Aristoteles
gemachte Einteilung in Theorie und Praxis, weil,
wie oben gezeigt, eine Äquivalenz zwischen Kausalität und Handeln und damit
zwischen Theorie und Praxis angenommen wird. Sowohl Theorie als auch Praxis
werden auf das Technische reduziert, sie werden
rein als Mittel gedacht. Ein genuin praktischer Diskurs wird
überflüssig bzw. wird ein praktischer Diskurs ("Kathederwertungen" Weber 1973e [1917]:
495 [457]) von der Universität in die öffentliche Agora verwiesen, weil man mit wissenschaftlichen Methoden, darunter versteht Max Weber vor allem Methoden der empirischen Wissenschaften, Zwecke nicht begründen kann.
Das Ziel wird wiederum von Francis Bacon formuliert, die
genaue wissenschaftstheoretische Begründung eines kausalen
Reduktionismus findet man bei Max Weber ("Umkehrung von Kausalsätzen")
und Karl Raimund Popper ("Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas"):
"Meta autem scientiarum vera et legitima non alia est, quam ut dotetur vita humana novis
inventis et copiis" (Bacon 1990
[1620]: 172, 81. Aphorismus, Teilband 1).
"Das wahre und rechtmäßige
Ziel der Wissenschaften ist kein anderes, als das menschliche
Leben mit neuen Erfindungen und Mitteln zu bereichern" (Bacon 1990
[1620]: 173, 81. Aphorismus, Teilband 1. Zur "galileischen Tradition" vgl.
von
Wright 1974 [1971], Mittelstraß 1992,
Schäfer 1993).
Auch der oft zitierte Slogan: "Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ sollte in diesem
Zusammenhang genannt werden:
"Hominis autem imperium in res, in solis artibus et scientiis ponitur. Naturae enim non imperator, nisi parendo" (Bacon 1990
[1620]:
270, 129. Aphorismus, Teilband 1).
"Der Menschen Herrschaft aber über die Dinge beruht allein auf den Künsten und
Wissenschaften. Die Natur nämlich läßt sich nur durch Gehorsam besiegen" (Bacon 1990
[1620]: 271, 129. Aphorismus, Teilband 1).
"Es bleibt eben dabei: daß
die ökonomische Theorie absolut gar
nichts anders aussagen kann als: daß für den gegebenen
technischen Zweck x die Maßregel y das allein oder das neben
y1, y2
geeignete Mittel sei, daß im letzteren Fall zwischen y,
y1, y2 die und die Unterschiede und
Wirkungsweise und - gegebenenfalls - der Rationalität bestehen, daß
ihre Anwendung und also die Erreichung des Zweckes x die
´Nebenfolgen´ z, z1, z2
mit in den Kauf zu nehmen gebietet. Dass alles sind einfache
Umkehrungen von Kausalsätzen und sowie sich daran ´Wertungen´
knüpfen lassen, sind sie ausschließlich solche des Rationalitätsgrades
einer vorgestellten Handlung. Die Wertungen sind dann und nur dann
eindeutig, wenn der ökonomische Zweck und die sozialen
Struktur-Bedingungen fest gegeben sind und nur zwischen mehreren
ökonomischen Mitteln zu wählen ist, und wenn diese
überdies ausschließlich in Bezug auf die Sicherheit, Schnelligkeit und
quantitative Ergiebigkeit des Erfolges verschieden, in jeder anderen für
menschliche Interessen möglicherweise wichtigen Hinsicht aber völlig
identisch funktionieren" (Weber 1973e [1917]:
529 [491]).
"Die Aufgabe der Wissenschaft ist teils theoretisch - Erklärung -
und teils praktisch - Voraussage und technische Anwendung. Ich werde
zu zeigen versuchen, daß diese beiden Aufgaben im Grunde zwei Seiten ein und
derselben Sache darstellen" (Popper
1984: 362).
"Wir sehen also, daß, vom logischen Standpunkt
betrachtet, die Prognosededuktion und die technische Anwendung
lediglich eine Art Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas
darstellen" (Popper
1984: 367).
Die Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung und damit eine Äquivalenz zwischen Aussagen und Regeln
ist die Voraussetzung bzw. führt zur Einteilung in theoretische und angewandte Wissenschaften.
Mit Hilfe von Umkehrungen von
Kausalsätzen
(Weber 1973a [1917]:
529) oder des pragmatischen Syllogismus
(Bunge 1967b: 134,
vgl. 7. Schaubild) wird von theoretischen Aussagen
mittels Analogie (notabene: mit einer formal nicht gültigen
Argumentationsweise) auf angewandte Regeln
geschlossen und damit werden Ergebnisse der theoretischen Wissenschaften in Ergebnisse für angewandte
Wissenschaften umgewandelt (vgl. 7. Schaubild).
Entscheidend wird, dass damit keine genuin praktische Methodologie
mehr notwendig ist. Dieser methodologische Reduktionismus wird auch heute
noch im Mainstream der Wissenschaften angenommen. Wenn man von angewandten Wissenshaften spricht, dann wird damit
keine eigenständige Methodologie propagiert, im Gegenteil das Adjektiv
empirisch weist oft noch nachdrücklich darauf hin, dass man dieselbe
Methodologie wie empirische Wissenschaften benutzt. Der Unterschied liegt
darin, dass man möglichst in der Praxis schnell umsetzbare Fragestellungen
behandelt.
C.
Sein-Sollen-Verhältnis
a. Methodenmonismus und Bevorzugung empirischer Methodik
Der Positivismus bevorzugt eine an den
Naturwissenschaften orientierte empirische Methodik. Alles, was nicht mit
dieser Methodologie bearbeitet werden kann, wird als unwissenschaftlich hingestellt.
Ein Methodenmonismus fordert die
Anwendung naturwissenschaftlicher Methodik auch in den Geistes- und
Sozialwissenschaften. Eine Methodenvielfalt ist damit nicht
ausgeschlossen, sondern wird ausdrücklich gefordert.
b. Rein technisches Sollen
Nur ein technisches Sollen kann wissenschaftlich begründet
werden.
c. Kein pragmatisches und kein normatives Sollen
Normative oder ethisch-moralische Fragen werden
ausdrücklich ausgenommen. Normative Diskurse sind nur insoweit ein
Anliegen der Wissenschaften, sofern es um die Erörterung von Mitteln
geht.
"Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll,
sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will" (Weber 1973c [1904]:
151).
D. Erklären-Verstehen-Debatte
Eine positivistische (empirisch-analytische) Wissenschaft
orientiert sich vor allem an der Methodologie der neuzeitlichen
Naturwissenschaften, in der vor allem
Erklärungen und Prognosen als Ziele wissenschaftlicher
Forschungen angesehen werden, während die Deskription mit
Hilfe von hermeneutisch-verstehenden Argumentationsweisen und qualitativen
Methoden eher einem vorwissenschaftlichen Stadium einer Wissenschaft
zugeschrieben wurde.
Gegen diese These haben sich Geistes bzw. Kulturwissenschaftler mit der
These von der Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften gewehrt. So
war die
philosophische Hermeneutik anderer Meinung: Für sie besitzt die
Methode der Interpretation und des Verstehens einen
Sui-generis-Charakter - sie lässt sich auf keinen Fall auf
naturwissenschaftliche Verfahren zurückführen und ist eine alternative
Erkenntnismethode zum Erklärungsmodell der Naturwissenschaften (vgl.
Dilthey 1922
[1883],
Rickert 1910
[1899],
Snow 1965 [1959], Gadamer
2010 [1960]. Zur
historischen Entwicklung der Erklären-Verstehen-Debatte vgl.
Bodammer 1987).
E. Bevorzugung
deduktiver Argumentationsweisen
René Descartes zufolge hat die Wissenschaft
eine axiomatisch-deduktive Struktur (Descartes 2001 [1637],
Descartes 1994
[1641],
Descartes 2005 [1644]).
Nicht nur im neuzeitlichen Rationalismus,
sondern auch in wichtigen wissenschaftstheoretischen Strömungen des 20.
Jahrhundert wie im logischen Empirismus, im
kritischen
Rationalismus und dem Erlanger Konstruktivismus wurden insbesondere von
naturwissenschaftlich orientierten Philosophen und Wissenschaftstheoretikern
deduktive Argumentationsweisen bevorzugt, induktive Methoden insbesondere von Popper (Popper 2005
[1934], Popper 2010 [1979])
grundsätzlich abgelehnt.
Aristoteles
(1920) behandelt in seinem Organon sowohl absteigende
Argumentationsweisen von Ideen, allgemeinen Begriffen, allgemeinen
Gesetzen, Modellen oder Theorien zu einzelnen Sachverhalten oder Urteilen
als auch aufsteigende, epagogische Argumentationsweisen vom
Einzelnen zum Allgemeinen. Insbesondere die Anhänger des kritischen
Rationalismus haben nur den deduktiven Argumentationsweisen den
wissenschaftlichen Status anerkannt und als Teil des
Rechtfertigungszusammenhangs angesehen
(context of justification, vgl.
Reichenbach 1983 [1938]:
3), kritische Rationalisten sprechen von Analysezusammenhang oder
Erklärungszusammenhang, weil sie Begründungen ablehnen), während die
induktiven Verfahren zum wissenschaftlich unwichtigen
Entdeckungszusammenhang (context of discovery, vgl.
Reichenbach 1983 [1938]:
3) herabgestuft wurden.
F. Ein Abgrenzungskriterium
Die Suche nach einem Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und
Pseudowissenschaft ist ein weiteres Kennzeichen einer reduktionistischen
Argumentationsweise (Popper 2005
[1934], insbesondere
Popper 2010 [1979]: 422
und 424, vgl. Abgrenzungskriterium).
"Die Begründung von Normen geschieht durch Prüfung
der faktisch geltenden Normen nach dem Kriterium der
Transsubjektivität. Nur wenn verteidigt werden kann, daß die Norm ´ohne
Ansehen der Person´, ohne Privilegierung partieller Interessen begründbar
ist, nur dann darf sie ´gerecht´ genannt werden. Diese Definition weist die
Gerechtigkeit als den ethisch-politischen Teil der Vernünftigkeit aus"
(Lorenzen 1978: 158).
4.2.6 Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse |
|
Wissenschaft begründet nur
wahrheitsdefinite Aussagen, d.h. Aussagen sind
entweder wahr oder falsch. Auch Normen
und Regeln werden auf normative Aussagen reduziert, damit die Bivalenz wahr/falsch angewendet werden kann.
"Daher wird man von einem wahren und vollständigen
Grundsatz des Wissens folgende Aussage machen und zu ihm folgende Vorschrift
erlassen müssen: man entdecke eine andere Eigenschaft, welche mit einer
gegebenen Eigenschaft vertauschbar und dennoch ein Sonderfall der
bekannteren Eigenschaft ist, also gleichwohl ein treues Abbild der wahren
Gattung darstellt. Beide Aussagen, die für das Handeln wie die
für das Betrachten, sind ein und dieselbe Sache und was im Tätigsein
am nützlichsten, ist im Wissen reine Wahrheit" (Bacon 1990
[1620]:
285-286, 4. Aphorismus, Teilband 2).
"Ista autem duo pronuntiata, activum et contemplativum, res eadem sund;
et quod in Operando utilissimum, id in Sciendo verissimum" (Bacon 1990
[1620]:
286, 4. Aphorismus, Teilband 2).
Auch was die Eigenschaften des Wissens anbelangt, findet man eine
reduktionistische Vorgehensweise, die mit
Äquivalenzen arbeitet: Normen und Regeln werden äquivalent mit
normativen Aussagen gesetzt, diesbezügliche logische und sprachliche
Analysen und Begründungen werden in der Regel schlicht vorausgesetzt, mir
sind keine bekannt (vgl. deontische Logik (Sein-Sollen-Logik) versus Normenlogik (Tun-Sollen-Logik).
4.3 Methodologischer Pluralismus (wissenschaftstheoretischer Neoaristotelismus)
|
|
Argumente gegen einen methodologischen Reduktionismus
und für einen methodologischen Pluralismus findet man auf sechs
methodologischen Ebenen.
Empirische und
normative Begriffe unterscheiden sich grundlegend voneinander. Normative Begriffe können nicht auf empirische Begriffe
reduziert werden (Begründung siehe 4.3.2 Satzebene).
Es gibt einen
strukturellen Unterschied zwischen Aussagen, Normen und Regeln.
Normen und Regeln können nicht auf (empirische)
Aussagen reduziert werden.
Mit Aussagen allein kann man keine normativen Diskurse
führen, daher hat Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus etwa die Ethik ins Reich
des Unsagbaren verortet. "Man
könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich
überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden
kann, darüber muß man schweigen“ (Wittgenstein 1984b
[1922]: 9, Vorwort, sowie
S. 7 und S. 85) und "Darum kann es auch keine Sätze
der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken“ (Wittgenstein 1984b
[1922]: 83 [6.42]).
In seiner Spätphilosophie überwindet er diesen
sprachlichen Reduktionismus und untersucht die verschiedenen Sprachspiele
(Wittgenstein 1984c [1951]).
Georg Henrik von Wright, ein Schüler von Wittgenstein und dessen
Nachfolger in Cambridge, bringt den Unterschied zwischen Aussagen und
Normen wie folgt auf den Punkt: "Eine Aussage, so kann man wohl
allgemein sagen, drückt einen bestehenden oder nicht bestehenden
Sachverhalt aus. Eine Norm dagegen gebietet, erlaubt oder
verbietet, im gewöhnlichen Fall wenigstens, eine Handlung oder
eine Kategorie von Handlungen. Es ist nicht klar, ob ein Gebot als
Aussage, und das, was geboten wird, also Handlung, als Sachverhalt
bezeichnet werden kann. [...] Den Begriff des Sachverhalts könnte man eine
`statische` Kategorie der Logik nennen, den Begriff der Handlung hingegen
als eine ´dynamische´ logische Kategorie bezeichnen" (von
Wright 1977f [1974]: 106).
Sprachliche Analysen von wissenschaftlichen Theorien zeigen deutlich, dass wissenschaftliche Theorien
aus Aussagensystemen, Normierungen oder Regulierungen bestehen, also nicht
nur aus Aussagen, sondern auch aus genuin praktischen Normierungs- und
Regulierungssystemen.
Auf der Logikebene
wurden die meisten Argumente gegen einen methodologischen Reduktionismus
vorgebracht, die Argumente werden in historischer Reihenfolge
erläutert:
-
Humes-Sein-Sollen-Dichotomie,
-
naturalistische Fehlschluss,
-
deontische Logik (Sein-Sollen-Logik) versus Normenlogik (Tun-Sollen-Logik),
- Sein-Sollen-Dichotomie logisch
betrachtet,
-
Brückenprinzipien.
A.
Humes Sein-Sollen-Dichotomie:
Vom Sein kann nicht auf ein Sollen geschlossen werden.
"Eine noch so große Menge zutreffender Aussagen über empirische oder
metaphysische Sachverhalte erlaubt es nicht, daraus eine Gebots- oder
Verbotsnorm abzuleiten" (Birnbacher 2007: 363.
vgl. Hume 2007 [1739/1740]: 302. Book 3, Part 1, Section 1. Eine
umfassende, insbesondere logische Analyse dieser Problematik findet man bei:
Schurz
1997).
B. Naturalistischer Fehlschluss: George Edward Moore hat Humes "Einsicht auf eine
breitere Basis gestellt. Moores Argument besagt, dass nicht nur keine
normative Aussage, sondern auch keine andere Art von bewertender Aussage
aus rein deskriptiven Prämissen mit logischen Mitteln ableitbar ist. Damit
eine bewertende Aussage ableitbar ist, muss mindestens eine der Prämissen
ebenfalls bewertend sein" (Birnbacher 2007:
363,
vgl. Moore 1965 [1903]. Eine umfassende, insbesondere logische Analyse dieser Problematik findet man bei:Stuhlmann-Laeisz 1983).
C. Deontische Logik (Sein-Sollen-Logik) versus
Normenlogik
(Tun-Sollen-Logik)
Mit Hilfe der deontischen Logik
kann man die formalen Beziehungen eines
empirischen Diskurses untersuchen, mit der Normenlogik dagegen den
praktisch-normativen Diskurs. Die Unterscheidung
zwischen Normen auf der einen und Aussagen über Normen
auf der anderen Seite geht nach Georg Henrik von Wright
(1963: 105) auf
Ingemar Hedenius zurück. Von Wright hat in mehreren Artikeln dargelegt (die wichtigsten wurden von Hans Poser
herausgegeben, vgl.
von Wright
1977), dass es z.B. zwischen der
Aussage bzw. dem empirisch-deskriptiven Satz "es ist verboten, zu töten“ und
der Norm bzw. dem normativen Satz "du sollst nicht töten“ prinzipielle
Unterschiede gibt. Ihm zufolge muss man zwischen einem "Sein-Sollen“
bzw. einer wahrheitsdefiniten deontischen
Modallogik auf der einen Seite und einem "Tun-Sollen“
bzw. einer nicht wahrheitsdefiniten Normenlogik auf der anderen Seite unterscheiden. Ein
"Sein-Sollen" bezieht die deontischen Operatoren auf
"Handlungssätzen"
(genauer Handlungsaussagen), auf
Sachverhalte oder Zustände, ein "Tun-Sollen" auf
"Handlungsverben", auf Handlungen (von Wright 1977g [1974]: 120,
siehe unten
Jørgensen-Dilemma. Zur Logik der Normen vgl.
Kalinowski
1973,
von Kutschera 1973,
von Wright 1977f [1974],
von Wright 1977g [1974] ).
Ähnlich sieht es Max Weber:
"Wenn das normativ Gültige Objekt empirischer Untersuchung
wird, so verliert es, als Objekt, den Norm-Charakter: es wird als
´seiend´, nicht als ´gültig´ behandelt" (Weber 1973e [1917]: 531 [493]).
D. Sein-Sollen-Dichotomie
logisch betrachtet: Edgar Morscher zeigt, dass die Versuche von
Black, MacIntyre, Searle und Prior, vom Sein auf ein Sollen zu
schließen, nicht gültig sind und bestenfalls zu einer sinnvollen
Präzisierung der Fragestellung führen (vgl.
Morscher 1974: 24 ff.). In zwei
Habilitationsschriften wurde die Sein-Sollen-Problematik mit
modernen logischen Mitteln untersucht. Der Schluss vom Sein auf ein
Sollen ist dann und nur dann nicht erlaubt, wenn von einer Klasse
normfreier Aussagen auf eine Klasse reiner Normaussagen geschlossen
werden soll (Stuhlmann-Laeisz 1983, insbesondere 129-149
und Schurz 1997).
Damit wird aber kein ontologischer Dualismus
gefordert
oder einem von der Wirklichkeit abgelösten Sollen das Wort geredet. Es
wird nur auf die unterschiedlichen logischen Strukturen von Sein und Sollen
hingewiesen.
E. Brückenprinzipien
In
der Regel enthält jede Moral und jedes Rechtssystem aber Brückenprinzipien, die verschiedene
Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Sein und Sollen ausdrücklich fordern. Gegen solche Brückenprinzipien gibt es keine logischen Einwände:
"Insbesondere können zwischen einer Klasse normfreier
Aussagen einerseits und einer Klasse reiner Normaussagen andererseits
nur dann logische Abhängigkeitsbeziehungen bestehen, wenn das Bestehen
dieser Beziehungen ausdrücklich durch die Axiome des jeweiligen
logischen Systems gefordert bzw. zugelassen wird" (Stuhlmann-Laeisz 1986: 27, vgl. Moore 1965 [1903]).
Das Sollen-Können-Prinzip ist das
bekannteste Brückenprinzip zwischen Sein und Sollen. Dies gilt sowohl
für den Bereich der Moral als auch den des Rechts.
Im Bereich der
Moral lautet die bekannteste Formulierung: "Die reine Vernunft enthält also, zwar
nicht in ihrem spekulativen, aber doch in einem gewissen praktischen,
nämlich dem moralischen Gebrauche, Prinzipien der Möglichkeit der
Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen
Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen
sein könnten. Denn, da sie (reine Vernunft, Anmerkung JL)
gebietet, dass solche (sittliche Vorschriften,
Anmerkung JL) geschehen sollen, so müssen
sie auch geschehen können, ..." (Kant 1956 [1781 und 1787]:
730 [A 807/B 835], vgl.
Kant 1974 [1788]: 4
[5], 35 [54]
und 54 [79]).
"Andererseits war jede differenzierte ethische Theorie
auf den Begriff der Natur oder auf einen ihm adäquaten Begriff angewiesen.
Eines derartigen Begriffs bedurfte man schon zur Ausgrenzung alles dessen,
was nicht aus normativen, sondern schon aus faktischen Gründen gar nicht zur
Disposition des menschlichen Handelns steht" (Wieland 1986:
16).
Im Bereich des Rechts gilt seit der
Römerzeit der Rechtsgrundsatz "ultra posse nemo obligatur" in
allen zivilisierten Rechtssystemen (vgl.
Wollschläger 1970a). In Deutschland ist dieses Prinzip im Bürgerlichen Gesetzbuch
§ 275 Ausschluss der Leistungspflicht verankert: "Der Anspruch
auf Leistung ist ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für
jedermann unmöglich ist" (BGB § 275, 1).
Auf der Argumentationsebene gibt es mehrere Kritikpunkte gegen
reduktionistische Argumentationsweisen bzw. mehrere Argumente für einen
methodologischen Pluralismus:
- Keine Äquivalenz zwischen Kausalität und
Handlung,
-
empirische und praktische statt theoretische und angewandte
Wissenschaften,
- Sein-Sollen-Verhältnis
bzw. Wertproblematik: Normen können mit empirischen Werkzeugen nicht
begründet werden,
-
Komplementarität zwischen Erklären und Verstehen,
-
Vielzahl prinzipiell unterschiedlicher
Argumentationsweisen,
- Zehn methodologische Ebenen der Evaluation statt eines
Abgrenzungskriteriums.
A. Keine Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung
Auch auf der Argumentationsebene
habe ich keine Argumente für eine Äquivalenz zwischen Kausalität
(Aussagen) und Handlung (Regeln)
gefunden, sondern nur Argumente
dagegen: Zwischen
Wenn-dann-Aussagen in den Naturwissenschaften und technischen Regeln
in den Technikwissenschaften besteht schon aufgrund ihrer logischen Struktur
ein prinzipieller
Unterschied, daher gibt es auch einen strukturellen Unterschied zwischen
Natur- und angewandten Technikwissenschaften (vgl. Kornwachs 2008:
136,
Kornwachs 2012). B. Empirische und praktische statt
theoretischer und
angewandter Wissenschaften Die neuzeitliche Reduktion des
Praktischen auf das Technische bzw. ein kausaler Reduktionismus (vgl.
oben B. Theoretische und angewandte Wissenschaften)
wurde von einer Vielzahl von Autoren kritisiert. "Eine für die
Analyse der praktischen Disziplinen geeignete Begrifflichkeit muß indessen
auch der normativen Dimension ihres Gegenstandsbereichs gerecht werden.
Gerade deshalb ist es nicht angängig, diese Disziplinen lediglich als
angewandte Wissenschaften und daher nur von den Hilfsmitteln her zu
verstehen, deren sie sich bedienen. Statt dessen gilt es, den besonderen
Spielarten und Gestalten des Wissens gerecht zu werden, die für den Bereich
dieser Disziplinen spezifisch sind" (Wieland
1986: 33). a. Kritisch-dialektische
Einwände Autoren der Frankfurter Schule haben sich besonders mit
einer Kritik der instrumentellen Vernunft (Horkheimer/Adorno 2010 [1947], Horkheimer 1977)
und des
eindimensionalen Menschen (Marcuse 1967 [1964])
hervorgetan. b. Rehabilitierung eines genuin
praktischen Wissensverständnisses im Anschluss an Aristoteles und Kant
Unterscheidung zwischen
theoretischer und praktischer Philosophie
"Aristoteles` praktische Philosophie besteht aus zwei Disziplinen, der Ethik
und der Politik. Auch bei Kant hat nicht bloß die Ethik, sondern auch die
Rechts-, Staats- und Politikphilosophie genuin praktischen Charakter"
(Höffe 2012: 75,
vgl. Aristoteles
1983: 5 [Nikomachische Ethik 1094] ff.).
Kants Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie
basiert vor allem auf methodologischen Gründen und zwar auf dem Unterschied
zwischen reiner und
praktischer Vernunft (und
Kant 1956 [1781 und 1787],
insbesondere Transzendentale Methodenlehre,
651-766 [A 705/B 733-A 856/B 884]).
Wolfgang Wieland
(1986: 21-41) hat
die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie vom Bereich der Philosophie auf den
Bereich der
Wissenschaft übertragen, wobei er technische Probleme, wie seit der
Neuzeit üblich, eher den theoretischen Wissenschaften zuordnet.
"Technische Probleme stellen sich überall dort, wo die Frage, was zu
tun sei, in ihren wesentlichen Bezügen bereits beantwortet ist und nur noch
die zur Erreichung des Ziels nötigen Mittel gefunden und optimiert werden
müssen. Technische Probleme haben daher ihrer Struktur nach eine größere
Affinität zu theoretischen als zu praktischen Problemen" (Wieland 1986:
35).
Eigene Position: Empirische
(deskriptive, explanative und prognostische) versus
praktische (normative, pragmatische und technische) Wissenschaften
Die Unterscheidung
zwischen theoretischer und praktischer Wissenschaft
übernehme ich nur zum Teil. Statt theoretischer
verwende ich empirische
(deskriptive, explanative und prognostische)
Wissenschaft,
vor allem weil es auch praktische (normative, pragmatische und technische)
Wissenschaften gibt und damit ein anderer Gegensatz, nämlich der zwischen
Theorie und Praxis, nicht
adäquat beschrieben werden kann.
Praktische Wissenschaften greifen auf die Ergebnisse der
empirischen Wissenschaften zurück und verwenden diese, trotzdem haben praktische Wissenschaften
einen genuinen
Charakter, d.h., dass sie zusätzlich eigene wissenschaftliche Werkzeuge
(Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken,
Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze) verwenden, mit denen sie
praktisches Wissen generieren
(Details siehe 5. Kapitel sowie 4. Schaubild
und 5. Schaubild).
c. Technikphilosophie
Technische Regeln und
ihre formalen Beziehungen können
nicht mit der
Aussagen- und Modallogik analysiert oder wiedergegeben werden,
sondern bedürfen einer Durchführungslogik
aufgrund der logischen Struktur des technischen Wissens. Das technische
Wissen hat damit einen Sui-generis-Charakter und
Technikwissenschaften sind keine angewandten Naturwissenschaften
(Bunge
1967b, Poser 2008,
Kornwachs 2008,
Kornwachs 2012: 167-220).
"All of this shows that we have to concentrate on
methods, not on an ontology of artifacts, in order to mark the Difference
between sciences and engineering" (Poser
2001: 195, vgl. Poser 2012 [2001]: 315).
"Therefore, engineering as an applied science cannot consist in the application
of pure science, even if the sciences might be and are helpful with respect to
theoretical boundaries. Applied sciences have their own goals, and, consequently,
their own methods" (Poser
2001: 197). d. Methodologischer Pluralismus bedingt durch
empirische und praktische Werkzeugtypen
Wissenschaftliche Werkzeuge
(Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken,
Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze)
generieren
prinzipiell verschiedene
Wissensformen, dadurch dass es zwischen
verschiedenen Werkzeugen auf allen Ebenen grundsätzliche Differenzen gibt
und damit auch verschiedene Werkzeugtypen. Damit kann ein
struktureller Unterschied zwischen
empirischen und praktischen Wissenschaften sowie empirischem und praktischem
Wissen begründet werden
(vgl. 4. Schaubild).
C. Sein-Sollen-Verhältnis bzw.
Wertproblematik: Normen können
mit empirischen Werkzeugen nicht begründet werden.
Welche Beziehungen gibt es zwischen
Normen
und Werturteilen auf der einen und Tatsachenaussagen und Tatsachenurteilen
auf der anderen Seite? Es lassen sich folgende mögliche Positionen von
Werten im Rahmen wissenschaftlicher Erörterungen angeben, und folgende
Fragenkomplexe müssen unterschieden werden:
-
Werte in der Wissenschaft, das sind wertende Stellungnahmen des
Forschers zum Objekt seiner Untersuchung, welche die Problemwahl und
Schlussfolgerungen aus seiner Analyse bestimmen (Wertbeziehung).
-
Der Wert der Wissenschaft, das ist die Funktion der Wissenschaft
bezüglich gewisser Interessenziele außerwissenschaftlicher Art.
-
Werte als Objekt der Wissenschaft, das sind materielle und ideelle Güter sowie Normen, die ethisch oder ästhetisch bedeutsam sind, und Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein können.
-
Das Werturteilsproblem im engeren Sinne: Brauchen wir eine
normative Sozialwissenschaft, die selbst Werturteile über ihren
Gegenstandsbereich, die soziale Wirklichkeit, formuliert?
Es handelt sich bei diesem Streit um die Frage nach dem Selbstverständnis
der Human-, Geistes- oder Sozialwissenschaften. Das Problem der wertenden
Wissenschaft selbst läuft auf die Beantwortung einer normativen Frage
hinaus, nämlich der Frage nach der Aufgabe der Wissenschaft. Es gibt in der
Tradition zwei prinzipiell verschiedene Auffassungen über die Aufgabe einer
Sozial-, Human- oder Geisteswissenschaft. Die eine Tradition geht auf
Aristoteles zurück und hält eine rationale Begründung von Normen und
Regeln für möglich. Die andere Tradition geht auf Max Weber zurück und
behauptet, dass mit sozialwissenschaftlichen Methoden eine Begründung von
Normen und Werten nicht möglich ist, allein die Begründung von
sozialtechnologischen Regeln wird bejaht. Von vielen, insbesondere
empirisch orientierten Sozialwissenschaftlern wird die erste These
dahingehend verallgemeinert, dass man mit keinen wissenschaftlichen
Werkzeugen Normen und Werte begründen kann.
"Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll,
sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will" (Weber 1973b [1904]: 151).
-
Werte und Normen, die die wissenschaftlichen Ergebnisse beeinflussen;
erstens auf die Interpretation der Daten und zweitens auf die Feststellung
der Tatsachen.
-
Werte für die Wissenschaft, das sind erstens endogene Werte, die
die Wissenschaftskriterien und die von der Forschungsgemeinschaft
approbierten Methodologien liefern.
Zweitens exogene Werte, das sind jene Umstände, unter denen eine optimale
Entfaltung der Wissenschaft gegeben ist.
Wichtig ist, dass eine reduktionistische
Vorgehensweise die hier gestellten Fragestellungen nicht in den
Griff bekommt, insbesondere ein praktischer Diskurs, weder ein
normativer, pragmatischer noch ein technischer Diskurs, ist damit nicht
adäquat zu bewältigen. Sehr wohl können aber empirische Aussagen über Normen
und Werte gemacht werden (vgl. oben Werte als Objekt der Wissenschaft), weil
Aussagen über Normen keinen genuin praktischen Diskurs benötigen.
Unmöglichkeit wohlgemerkt mit Mitteln der empirischen Sozialwissenschaft
Normen und Werte zu begründen (Weber1973c
[1904],
Weber 1973e [1917],
Acham 1983: 230 ff.,
Albert 1967b,
Albert
1971b,
Stegmüller 1979b: 177 ff.,
Krobath 2009:
193 ff.), nicht aber eine generelle Unmöglichkeit eines praktischen
(normativen, pragmatischen oder technischen) Diskurses. Im Gegenteil solche
Diskurse sind erstens wünschenswert und notwendig als auch methodologisch
machbar: "Eine normative Kraft des Faktischen gibt es
jedoch nicht. Tendenzen und Entwicklungen in der Gesellschaft können
als solche niemals Pflichten verbindlich machen oder Handlungen
rechtfertigen. Die Faktizität von Forderungen, auch wenn sie vom modernen
Götzen Gesellschaft erhoben werden, kann für sich allein niemals Legitimität
von Normen begründen. Denn Forderungen sind ohne Ausnahme, von
welcher Instanz sie auch erhoben werden mögen, selbst der Normierung und
der Legitimierung bedürftig" (Wieland 1986: 136). D. Erklären-Verstehen-Debatte:
Komplementarität zwischen Erklären und Verstehen
Beschreibungen und Verstehen sind
Voraussetzungen von Erklärungen.
Von Wright
(1974 [1971] unterscheidet zwischen Interpretation und Verstehen auf
der einen Seite und Erklärung auf der anderen Seite. Wenn jeder Akt
des Erfassens "Verstehen" genannt wird, dann ist Verstehen eine
Vorbedingung für jede Erklärung, sei sie kausal oder teleologisch. Verstehen
bildet keine alternative Erkenntnismethode zur Erklärung. Von Wrights
Ausführungen "haben entscheidend dazu beigetragen, daß wir allmählich
zu verstehen beginnen, was man unter `Verstehen` verstehen soll" (Stegmüller 1979a:
147. Band II).
Die Hermeneutik beschreibt, wie durch Dialog
ein gemeinsames Verständnis möglich wird. Erst wenn dies vorliegt, kann man
dazu übergehen, etwas zu erklären. Interpretationen antworten auf "Was ist dies? - Fragen". Erklärungen
auf "Warum-Fragen". Diese beiden Tätigkeiten sind miteinander verbunden und
stützen sich gegenseitig. Sie können also komplementär gedacht
werden, d.h., Erklären und Verstehen ergänzen sich und
schließen sich nicht aus.
"Science aims at an investigation of the whole
universe, namely, in order to formulate the most general laws it obeys.
Technology cannot leave out this framework; its boundaries are given by
these laws. But technology does not deal with the whole universe; it is
concentrated on local conditions and their transformation. So technology had
to react to conditions which might be absolutely unique [...] Seen from a
methodological standpoint, this implies all the well-known problems of
understanding uniqueness, to which hermeneutics intends to give an
answer" (Poser
2001: 201, vgl. Poser 2012: 325 ff.).
Auf der methodischen Ebene sowie der Ebene
der methodischen Ansätze wirkt sich die Komplementarität zwischen
Erklären und Verstehen so aus, dass sich quantitative
und qualitative Methoden und methodische Ansätze ergänzen
und auch komplementär eingesetzt werden müssen. Während quantitative
Methoden und Ansätze erklärende Argumentationsweisen verwenden,
nutzen qualitative Methoden und Ansätze verstehende Argumentationsweisen
(vgl. 4. Schaubild).
E. Vielzahl prinzipiell
unterschiedlicher Argumentationsweisen
Stephen Edelston
Toulmin (1996 [1958]
argumentiert insbesondere gegen einen argumentativen
Reduktionismus, der das analytische
Paradigma als Standard und repräsentativ für wissenschaftliche
Argumentationen hinstellt. Er nimmt folgende
Unterteilungen vor:
- deduktive, analytische, schlussregel-gebrauchende,
schlüssige, formal gültige Argumentationsweisen,
- induktive, substantielle, schlussregel-begründende, tentative,
formal nicht gültige Argumentationsweisen.
“Die Unterteilung von Argumentationen in analytische
und substantielle, in schlußregel-gebrauchende und
schlußregel-begründende, in schlüssige und tentative und in formal gültige
und nicht formal gültige werden um theoretische Zwecke willen alle in eine
einzige Unterscheidung gepresst. Das Paar von Termen ´deduktiv´ und
´induktiv´, das – wie wir sahen, - in der Praxis nur zur Bezeichnung der
zweiten dieser vier Unterscheidungen verwendet wird, wird allen vier
Unterscheidungen zugeordnet“ (Toulmin 1996
[1958]: 129-130).
Vor allem weist er auf die Bereichsabhängigkeit
der verschiedenen Argumentationsweisen hin und untersucht deren
unterschiedliche Strukturen: "Allgemein formuliert kann es am besten
als systematische Divergenz zwischen zwei Mengen von Kategorien angegeben
werden, zwischen den Kategorien, die wir beim praktischen Geschäft des
Argumentierens angewandt sehen und den entsprechenden Analysen dieser
Begriffe, die in Büchern über formale Logik dargestellt werden. Während
die Standards zur Beurteilung der Richtigkeit, Gültigkeit oder der Stärke
von Argumentationen in der Praxis bereichsabhängig sind,
beschränken Theoretiker der Logik diese Begriffe und versuchen, sie
bereichsunabhängig zu definieren“ (Toulmin 1996
[1958]: 132).
F. Zehn methodologische Ebenen der Evaluation statt eines
Abgrenzungskriteriums
Es gibt nicht nur ein Abgrenzungskriterium (z.B. das deduktiv-nomologische Modell), mit dessen Hilfe
man zwischen Wissenschaft bzw. wissenschaftlich begründetem Wissen auf der einen und Pseudowissenschaft bzw. subjektiven Ideologien, Utopien und Stammtischparolen auf der
anderen Seite unterscheiden kann. Wissenschaftliche Analysen können auf zehn methodologischen Ebenen
evaluiert werden (vgl. 3. Kapitel sowie
2. Schaubild).
4.3.6 Eigenschaften von Aussagen, Normen und Regeln sowie regulative Ideen innerhalb wissenschaftlicher Diskurse |
|
Wahrheit ist nicht die einzige regulative Idee wissenschaftlicher Diskurse. Wahrheitsprädikate
werden in empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen)
Diskursen verwendet. Praktische (normative, pragmatische und technische) Diskurse haben andere Eigenschaften.
Folgende Prädikate werden in wissenschaftlichen Diskursen benutzt:
-
Wahrheit ist die regulative Idee analytischer und empirischer (diskursiver, explanativer und prognostischer) Diskurse.
In diesen Diskursen können wahre oder falsche Aussagen über die
Welt oder die politische Realität getroffen werden. Nur Aussagen sind wahrheitsdefinit,
hingegen keine Normen oder Regeln.
-
Gültigkeit (Richtigkeit)
und Gerechtigkeit sind regulative Ideen normativer Diskurse. Ethisch-moralische Normen und Normierungen ermöglichen eine Bewertung von Handlungen und sozialen Tatsachen mit dem Prädikat richtig oder falsch bzw. gut schlechthin oder falsch.
Politische Handlungsmaximen, politische
Handlungen und soziale Tatsachen können mit dem Prädikat gerecht oder ungerecht bewertet werden
(während auf ethisch-moralische Normen in den Normen eines politischen
Systems nur indirekt Bezug genommen wird, bilden politische Handlungsmaximen den Kern einer Verfassung z.B. Artikel 1-20 des
Grundgesetzes, vgl. normative Urteile).
-
Klugheit und Wünschbarkeit sind regulative Ideen pragmatischer Diskurse, es gibt
kluge oder unkluge bzw.
wünschenswerte oder unerwünschte pragmatische Regeln
(Handlungsstrategien) bzw. für jemanden
gut (zu den Bewertungsstufen "gut schlechthin", "gut für jemanden" und "gut für etwas" siehe unten Bewertungsstufen und
Höffe 2009: 22-28, vgl. pragmatische Urteile).
-
Effektivität (Wirksamkeit) ist die regulative Idee technischer Diskurse. Regeln und
Regulierungen (Handlungsstrategien, Handlungsinstrumente oder Handlungsanweisungen) sind
effektiv oder uneffektiv oder für etwas gut (vgl.
5. Schaubild
sowie 5.4.3 Praktisch-politische (normative, pragmatische und technische) Begriffe und Diskurse).
Normative Urteile
"Die Intuition, die mich leitet, läßt sich wie
folgt charakterisieren. Einerseits stellt sich die Richtigkeit
moralischer Urteile auf demselben Wege heraus wie die Wahrheit
deskriptiver Aussagen - durch Argumentation. Auf
Wahrheitsbedingungen haben wir ebenso wenig einen direkten, durch Gründe
ungefilterten Zugriff wie auf die Bedingungen, unter denen moralische Normen
allgemeine Anerkennung verdienen. In beiden Fällen kann sich also die
Gültigkeit von Aussagen nur im diskursiven Durchgang durch das Medium
verfügbarer Gründe erweisen. Auf der anderen Seite fehlt moralischen
Geltungsansprüchen der für Wahrheitsansprüche charakteristische Weltbezug.
´Wahrheit´ ist ein rechtfertigungstranzendenter Begriff, der auch
nicht mit dem Begriff ideal gerechtfertigter Behauptbarkeit zur Deckung
gebracht werden kann. Er verweist vielmehr auf Wahrheitsbedingungen, die
gewissermaßen von der Realität selbst erfüllt werden müssen. Demgegenüber
geht der Sinn von ´Richtigkeit´ in ideal gerechtfertigter
Akzeptabilität auf" (Habermas
2009b [1999]: 397).
"Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen.
Eine noch so elegante und mit sparsamen Mitteln arbeitende Theorie muß
fallengelassen werden, wenn sie nicht wahr ist; ebenso müssen noch so
gut funktionierende und wohl abgestimmte Gesetze und Institutionen abgeändert
oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind. Jeder Mensch
besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch
im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann.
Daher läßt es die Gerechtigkeit nicht zu, daß der Verlust der Freiheit bei
einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird“ (Rawls 1979
[1971]:
19-20).
"Solange wir bei Zielen allein stehen bleiben und nicht die hinter ihnen stehenden Werte berücksichtigen, ergäbe sich kein Ausweg. Tatsächlich aber sind alle bisher betrachteten Ziele nur höherrangige Mittel auf dem Weg zu noch globaleren
Zielen. Damit erweist es sich als notwendig, in eine Wissenschaftstheorie der Technik
eine Wertetheorie zu integrieren, die von Werten wie Funktionalität, Effizienz, Wirtschaftlichkeit
einerseits, Sicherheit, Gesundheit, Umweltschutz andererseits, bis hin zu personalen und gesellschaftlichen Werten
reichen muss. Die funktionale ebenso wie die teleologische Sicht erlaubt also, Ziele im Lichte
allgemeinerer Ziele zu ersetzen" (Poser
2012: 321).
Pragmatische Urteile
„Unter ‚Wertungen‘ sollen nachstehend, […] `praktische‘ Bewertungen
einer durch unser Handeln beeinflußbaren Erscheinung als verwerflich
oder billigenswert verstanden sein“ (Weber
1973a [1917]: 489 [451]). Werturteile sind „praktische Wertungen
sozialer Tatsachen“, die „unter ethischen oder unter
Kulturgesichtspunkten (oder aus anderen Gründen)“ praktische Wurteile
wie „wünschenswert oder unerwünscht“ (Weber
1973a [1917]: 499 [461]) beurteilen.
Technische Urteile
"The means given by the rules must be
effective
in the sense of technological possibility. This includes that the rules have
been shown to be successful, but there is no necessity for a rule to be true.
Moreover, rules can be neither true nor false. In the light of
philosophy of science, we therefore have to admit that the justification of
technological rules differs from justification within the empirical sciences.
They do not aim truth, but efficiency" (Poser
2001: 199).
"Die Mittel, die durch diese Regeln angegeben werden, müssen effektiv im Sinne technischer Möglichkeit sein. Dies schließt ein, dass sich die Verfahrensregeln bewährt haben; aber es ist nicht notwendig, dass sie wahr sind. Allgemein gesprochen können Handlungsregeln weder wahr noch falsch sein. Wir müssen darum im Lichte der Wissenschaftstheorie zugestehen, dass sich die Rechtfertigung dieser technologischen Verfahrensregeln
grundsätzlich von derjenigen unterscheidet, die aus den Erfahrungswissenschaften für Gesetzesaussagen geläufig ist, denn letztere zielt ab auf Wahrheit, erstere hingegen auf Effektivität und darüber hinaus auf Effizienz. Effektivität besagt, dass das Ziel erreicht wird; Effizienz verlangt darüber hinaus, dass dieses mit geringem Aufwand geschieht" (Poser 2012: 322).
"In der angewandten Wissenschaft, wie sich die
Technikwissenschaften verstehen, ist die vorherrschende Aussagenform die
technologische Regel "B
per
A“. Sie ist keine
Implikation, sondern fordert auf, A zu tun, wenn
B
erreicht werden soll. Ihre erfolgreiche Anwendung ist bekanntlich auch ohne
die dazu gehörigen naturwissenschaftlichen Kenntnisse möglich. Eine
technologische Regel wird nach dem Kriterium der Effektivität, nicht
nach der Wahrheit bemessen" (Kornwachs 2010: 144. vgl.
Kornwachs 2008).
"Technische Regeln drücken damit die
effektiven bzw. uneffektiven Beziehungen
der Möglichkeit der zeitlichen Abfolge von Durchführungen hinsichtlich der
Initialisierung ihrer Wirksamkeit aus. Durch diesen klaren zeitlichen Bezug
beziehen sich technische Regeln auf Abfolgen von Durchführungen, von denen
es sinnvoll ist, sie als effektiv oder uneffektiv zu bewerten"
(Kornwachs 2012:
172).
"Das entscheidende Kriterium in der Technik ist nicht die Wahrheit,
sondern die
Effektivität" (Kornwachs
2013: 91).
Wahrheitsfindung: Skeptische und antiveritative Tendenzen
Die Suche nach der einen Wahrheit
ist sicherlich eine
prämoderne Denkweise. "Was ist Wahrheit", sagte Pilatus spöttisch
und wollte nicht bleiben, um die Antwort zu hören. Pilatus war seiner Zeit
voraus. Denn »Wahrheit« selbst ist ein abstraktes Substantiv, also ein Kamel
von einer logischen Konstruktion, das nicht einmal durch das Öhr eines
Grammatikers hindurchgehen kann“ (Skirbekk 1977a:
Klappentext).
"Freilich gibt es in der Tradition auch
antiveritative Tendenzen,
die nicht nur das Faktum und die Erkennbarkeit von Wahrheit leugnen, sondern
auch deren Relevanz für die Orientierung des menschlichen Lebens
bestreiten und an die Stelle von Wahrheit Begriffe wie Praxis, Existenz,
Wille oder Interesse setzen und diese zu Grundlagen des menschlichen Lebens
erklären. Bezweifelte die antike Skepsis und ähnlich die
frühzeitliche nur, ob Wahrheit erkannt werden könne, so wird seit
Nietzsche und der auf ihm basierenden Postmoderne aufgrund eines
radikalen Relativismus und Perspektivismus schon der Sinn von
Wahrheit und die Möglichkeit der Ausrichtung
auf Wahrheit bestritten. Nietzsche hat den Anspruch gefällt: ´Wahrheit ist die Art von Irrthum,
ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte´“ (Gloy 2004a:
3).
Kohärenztheorie der Wahrheit: Heute steht
meiner Meinung nach, wenn überhaupt, nicht die Suche nach "der" Wahrheit,
sondern nur die viel bescheidenere Frage im Mittelpunkt, ob analytisches
oder empirisches Wissen kohärent oder konsistent ist
(vgl. Rescher 1977 [1973]:
337-390,
Young 2008,
Gloy 2004a,
siehe auch 5. Schaubild).
"Die Wahrheit einer Aussage scheint nur noch von
ihrer Kohärenz mit anderen Aussagen verbürgt werden zu können" (Habermas
2009a [1999]: 400).
Aufgrund von prinzipiellen Grenzen
aller wissenschaftlichen Werkzeuge
handelt es sich dabei immer um hypothetische Antworten. Trotzdem
bedingt dies keine Relativität
des Wahrheitsanspruches. Die Beziehung zwischen Voraussetzung und Folge enthält einen
absoluten
Wahrheitsanspruch, es handelt sich immer um Erkenntnis von Sachverhalten unter
Voraussetzungen (vgl. Wieland 1986: 31 sowie 3.2
Wissenschaftstheoretische Grundlagen: Aufgaben, Kriterien und Eigenschaften
wissenschaftlicher Diskurse).
Jørgensen-Dilemma: In der Logik wird mit
Wahrheitswerten gearbeitet. Normative
Sätze können aber nicht wahrheitsfähig
sein.
"By the word ´imperative´ I understand imperative sentences
which I define as sentences in which the main verb is
in the imperative mood. Imperatives in this sense may so comprise not only
commands or orders but also requests, pleas, appeals and other linguistic
expressions of willing or wishing something to be done or not to be done" (Jørgensen
1937/1938: 288).
"´Be quiet` - is it true or false? A meaningless
question. ´Do your duty` - is it true or false? Ananswerable. The two
commands may be obeyed, accepted and considered justified or not justified;
but to ask whether they are true or false seems without any sense as well as
it seems impossible to indicate a method by which to test their truth or
falsehood" (Jørgensen
1937/1938: 289).
"Damit ist das wichtigste Ergebnis gewonnen: wenn
man Forderungssätze wie Behauptungssätze behandelt und annimmt, dass auch
die Forderungssätze der Alternative wahr-falsch im üblichen Sinne
unterstellt sind, obwohl man zunächst keine Charakterisierung der wahren im
Unterschied zu den falschen Forderungssätzen finden kann, so gibt es
keine Begründung und keine Widerlegung von Forderungssätzen, die mehr zeigt
als Widerspruchsfreiheit bezw. Widerspruchserfülltheit derselben.
Es muss als der entscheidende Mangel aller wissenschaftlich sein
wollenden Ethik bezeichnet werden, dass sie diesen fundamentalen Unterschied
zwischen Behauptungs- und Forderungssätzen nicht erkannt hat und auch die
Forderungssätze der von den Behauptungssätzen her bekannten Alternative
wahr-falsch ´naiv´ unterstellt, obwohl die Forderungssätze dieser
Alternative so wenig unterstellt sind wie etwa die Zahlen der Alternative
gesund-krank" (Dubislav 1937: 339).
Es gibt nun zwei Auswege aus dem
Jørgensen-Dilemma, entweder man verzichtet auf
eine Logik der Normen und Regeln und begnügt sich mit
einer deontischen Logik, die mit normativen Aussagen arbeitet (vgl. 4.2.6 Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse), oder man verzichtet auf die
Wahrheitsfähigkeit von Normen und Regeln.
Der zweite Ausweg ist wesentlich attraktiver und soll
daher auch geschildert werden. Einen Ausweg aus dem Jørgensen-Dilemma
auf der rein normativen Ebene hat von Wright
(1977g [1974]) gezeigt, dadurch dass er eine deontische Logik, eine
Sein-Sollen-Logik
(Aussagen über Normen) von einer Normenlogik, einer Tun-Sollen-Logik unterschieden hat (vgl.
oben deontische Logik).
Klaus Kornwachs
(2008) hat vor allem die technische Ebene
im Visier und
unterscheidet im Anschluss an Mario Bunge (1967b) zwischen Aussagen und Regeln. Auch Regeln sind nicht
wahrheitsdefinit, sondern effektiv oder uneffektiv. Auf der
technischen Ebene bedarf es daher einer Durchführungslogik
(vgl. Poser 2001, Vergleich zwischen
Aussagenlogik und Durchführungslogik
Kornwachs 2012:
186).
Fazit: Normen und
Regeln sind nicht wahrheitsdefinit (vgl.
Jørgensen-Dilemma). In praktischen (normativen, pragmatischen und
technischen) Diskursen werden wahrheitsanaloge Prädikate
verwendet: Im ethisch-moralischen Diskurs
werden richtig und falsch (Richtigkeit) für den Diskurs innerhalb der
Ethik auf der Individualebene und gerecht oder ungerecht (Gerechtigkeit)
für den politisch-normativen Diskurs (vgl. normative Urteile)
auf der Kollektivebene, für in pragmatischen Diskursen die Prädikate klug oder unklug bzw.
wünschenswert oder unerwünscht (Klugheit bzw. Wünschbarkeit, vgl. pragmatische Urteile) sowie effektiv
und uneffektiv (Effektivität)
und technischen Diskurse
(vgl. technische Urteile) gebraucht.
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